The Work – der schnelle Weg zur Erleuchtung? Ich kenne viele, die bei Meditationen aller Art, bei Za-Zen oder Vipassana, Enlightenment-Intensive oder Yoga oder einfach nur beim Sport oder Musikhören kurzfristig Zustände der Erleuchtung erleben. Gedankenlosigkeit und gleichzeitig vollkommene Wachheit, das Bewusstsein der Einheit mit Gott und allem was existiert, unendliche Weite und Größe. Ich selbst erlebe „Satori“ (so nenne ich den nicht dauerhaften Zustand) unweigerlich nach einiger Zeit des Hyperventilierens, wie ich schon bei meiner zweiten oder dritten Rebirthing-Erfahrung entdeckte. Leider ist es aber meist so, dass nach Beendigung dieser Aktivitäten nur mehr die Erinnerung an die wunderbare Erfahrung bleibt. Ich nahm einmal an einer Enlightenment-Intensive-Gruppe teil, bei der mein neben mir sitzender Freund plötzlich über und über zu leuchten begann, seine Hände schüttelte und rief: „Schau, diese Energiebällchen, die aus mir herauskommen!“ Noch Stunden lächelte er in sich hinein und hatte die typische Ausstrahlung des heiligen Narren, der weiß, dass er Gott ist und dass es nichts zu tun gibt, und dass das Gras von alleine wächst. Nach der Gruppe fuhren wir zusammen viele Kilometer nach Hause und er schwärmte von seiner Erfahrung. Plötzlich wurden wir von einer Polizeistreife angehalten, weil wir nicht angeschnallt waren. Ich traute meinen Augen und Ohren nicht, als ich meinen Freund erlebte: Er beschimpfte den armen Polizisten und regte sich fürchterlich auf – von Erleuchtung oder Satori keine Spur mehr. Auch als wir weiterfuhren, schimpfte er noch weiter vor sich hin. Als ich ihn lachend auf die Diskrepanz zwischen seiner Gruppenerfahrung und seinem augenblicklichen Verhalten hinwies, reagierte er kindisch und redete eine Weile nicht mehr mit mir. Ich habe viele Menschen kennen gelernt, die als erleuchtet gelten und bei fast allen habe ich Zustände erlebt, in denen sie zumindest zeitweilig in ihren Gedanken verstrickt schienen. (Ich sage nicht, dass ein Erleuchteter immer sanft und liebenswürdig zu sein hat – aber man kann auch bei Erleuchteten sehr wohl zwischen Zorn, der aus dem Ego kommt und heiligem Zorn, der bewusst und aus Liebe eingesetzt wird, unterscheiden.) Ich denke, dass Meditationstechniken helfen können, den automatischen inneren Dialog anzuhalten, und dass bei manchen Menschen dieses Anhalten dauerhaft geschieht. Aber der Normalfall scheint mir zu sein, dass das zwanghafte Denken nach einiger Zeit wieder einsetzt – spätestens dann, wenn es durch äußere Ereignisse getriggert wird. Es wäre natürlich wünschenswert, wenn man in Stresssituationen seine bevorzugte Meditationsmethode einsetzen könnte, aber gerade dann ist es meist nicht möglich oder angebracht. Wenn ich mich auf einem Retreat befinde und zwischen Gleichgesinnten und bei Kerzenschein im Schneidersitz und mit geschlossenen Augen „OM“ singe, fällt es mir relativ leicht, gelassen zu sein und zu spüren, dass ich Buddha bin, aber wenn ich übermüdet bin, tief in Arbeit stecke und mein Chef mich dann noch zur Sau macht, dann nützt (bei mir jedenfalls) die schönste Meditations- oder Atemtechnik nicht. Die Methode „The Work“ bietet einen einfachen Weg, um Gedankenlosigkeit dann zu erzeugen, wenn sie gewünscht wird. Ja, sie benutzt geradezu jede unerwünschte Situation und die hierdurch hervorgerufenen automatischen Gedanken und unangenehmen Gefühle, um geistig und seelisch zu wachsen. Die Amerikanerin Byron Katie Mitchell, eine ehemalige Immobilienmaklerin, hat sich selbst mit dieser Methode (die ihre Wurzeln vermutlich in der „Rational-emotiven Therapie“ des Albert Ellis hat) aus einem Sumpf gezogen, der aus Alkoholismus, gescheitertem amerikanischem Traum, exzessivem Übergewicht, Drogenabhängigkeit, Agoraphobie (der Unfähigkeit aus dem Haus und unter Menschen zu gehen), und vielen weiteren therapeutisch zu behandelnden „Macken“ bestand. Ausgelöst wurde diese Entwicklung zwar durch eine Arte Erleuchtungserlebnis*, das – wie in vielen derartigen Fällen – am absoluten seelischen und körperlichen Tiefpunkt stattfand, aber zu ihrem jetzigem Zustand des Glücks gelangte Byron nur durch die jahrelange konsequente Anwendung ihrer Methode, die aus einer Art einfacher Fragetechnik besteht. (Siehe Kasten.) Als ich diese Fragen zum ersten Mal las, schienen sie mir zwar plausibel, aber nichts Besonderes, nicht einmal wert auszuprobieren – sie erinnerten mich an Techniken, die ich schon in den sechziger Jahren bei Walter Stille praktiziert hatte. Als ich dann gebeten wurde, für eine Zeitschrift über Byron Katie Mitchell und ihre Methode zu schreiben, füllte ich probeweise ihren Fragebogen aus und untersuchte meine dort aufgeschriebenen Glaubenssätze mit den vier Fragen. Was dabei herauskam, schien mir wertvoll, aber es hob sich in keiner Weise von irgendeiner anderen mir bekannten Methoden der Selbsterkenntnis ab. Dann besuchte ich ein Seminar mit Byron, auf dem ich eher spielerisch – ich betrachtete mich als Journalist, der einfach nur die Probe aufs Exempel machen wollte – drei verschiedene Bereiche meines Lebens mit Hilfe des Fragebogens untersuchte. Das erste Thema betraf meine Erlebnisse mit einem angeblich erleuchteten Zen-Meister, das zweite bezog sich auf eine sehr schmerzhafte vergangene Beziehung und beim dritten ging es um eine ungerechtfertigte Mieterhöhung meines Vermieters, wegen der ich mich in langwierigen Gerichtsverhandlungen befand. Nachdem ich alle Glaubenssätze mit „The Work“ bearbeitet hatte, traten derart dramatische Veränderungen in meinem Leben ein, dass ich begann, die Methode systematisch einzusetzen. Da ich in solchen Dingen eher faul bin, war es sehr hilfreich, dass ich inzwischen vom Goldmann-Verlag den Auftrag erhalten hatte, ein Buch über „The Work“ und Byron Katie zu schreiben.* So praktizierte ich die vier Fragen nicht nur mit mir, sondern auch mit Freunden und Bekannten. Dies sprach sich sehr schnell herum – einige begannen, mich zu meiden, andere suchten mich gezielt auf, da sie merkten, wie die Methode auch ihr Leben zu verändern begann. Wer sich für diese Geschichten interessiert, kann sie in meinen Büchern nachlesen. Ich muss hier noch einmal betonen, dass man den einfachen Fragen nicht ansieht, welche Umwälzungen sie hervorrufen können. Wenn sie gestellt werden, erhält man interessante Erkenntnisse, die sich oft auch wunderbar umsetzen lassen, aber ich glaube nicht, dass das der wichtigste Aspekt ist, der die immense Wirkung hervorruft. Der Methode wohnen andere Geheimnisse inne. Hier ist das, was ich für mich herausgefunden habe: 1. Nach einiger Zeit des Praktizierens wird die Untersuchung des eigenen automatischen Denkens ein ebenfalls automatischer Vorgang. Es entsteht ein Metadenken, das die Gehirntätigkeit lediglich beobachtet. Der Zeuge wird innere Realität. 2. Automatische Gedanken erzeugen nicht mehr – möglicherweise völlig unbemerkte automatische Gefühle. Sie werden nur noch registriert, nicht mehr abgelehnt, nicht einmal durch weitere Gedanken konterkariert oder zumindest kommentiert. 3. Automatische Gedanken, die einmal mit den Fragen untersucht wurden, treten oft überhaupt nicht mehr auf. In vielen Fällen lässt die Häufigkeit ihres Auftretens nach, bis sie ganz verschwinden. 4. Automatische Gedankentätigkeit – innerer Dialog – lässt generell nach. 5. Mehr Gleichmut, Liebesfähigkeit, Akzeptieren, Loslassen stellen sich ein. Wir bekommen von spirituellen Lehrern aller Couleur ja immer wieder gepredigt, dass wir lieben, gleichmütig werden, und akzeptieren sollen. „Lass los!“ ist wohl der häufigste Rat, der in diesem Bereich gegeben wird. Wer wirklich loslassen kann, braucht sicher die von mir beschriebene Methode nicht. Ich würde sagen, wer wirklich ALLES loslassen kann, ist augenblicklich erleuchtet. Bei mir haben diese spirituellen Ratschläge lediglich bewirkt, dass sich meine inneren Kämpfe vervielfältigten. In meiner „vorspirituellen Zeit“ war ich nur einfach ungeduldig, wütend, nicht-liebend, verstrickt und unbewusst. Dann lernte ich all die wunderbaren spirituellen Glaubenssätze von den großen Meistern und hinfort verurteilte ich mich innerlich für meine Unbewusstheit, meine Ungeduld, mein unspirituelles Verhalten. Anstatt meinen Ärger zu genießen, ärgerte ich mich hinfort über meinen Ärger. Mit Hilfe der Untersuchung durch die Fragen von „The Work“ lernte ich, all mein Verhalten zu lieben, all meine Gedanken, meine Mitmenschen, meine Umgebung und – oh Wunder – mein Verhalten, meine Gedanken, meine Umgebung begannen, sich zu verändern.
Ich erlebe jetzt kürzere oder längere Phasen des Gleichmuts, des Loslassens, der Gedankenlosigkeit. Über lange Strecken sehe ich die automatische Tätigkeit des eigenen Gehirns von einer höheren, liebevollen Warte, etwa wie ich die Tätigkeit meines Magens und Darms spüren kann. Natürlich kommen immer wieder Gedanken, mit denen ich mich so sehr identifiziere, dass sie mich unbewusst werden lassen – die Verstrickung ist wieder da. Aber Verstrickung ist meistens schmerzhaft, der Schmerz erinnert mich an die Methode, ich wende sie an und schon stellt sich der erstrebenswerte Zustand der liebevollen Losgelöstheit wieder ein. Lachen, das von tief innen kommt. Unangenehme Erlebnisse, Menschen, sogar große politische Themen empfinde ich nur noch als Gottes Hand auf meiner Schulter, die mich an die eigentliche und einzige Aufgabe meines Lebens erinnert – eins zu sein mit Allem, was existiert. Und auch in dieser Hinsicht hat mir die Methode neue Horizonte eröffnet, denn wenn man sie mit Anderen praktiziert, erhält man Einblick in das Denken der Mitmenschen. Mehr und mehr stelle ich fest, dass die Untersuchung des fremden Denkens in Wirklichkeit die Untersuchung des kollektiven Denkens ist. Die heilende Wirkung der Methode ist auch zu spüren, wenn Andere in meiner Gegenwart damit arbeiten. Diese Erfahrung wird fast ausnahmslos von den Teilnehmern meiner Workshops gemacht. Wir alle sind in Wirklichkeit eins. Viele spüren es, wenn sie miterleben, wie jemand seine Denkmuster mit Hilfe der Fragen untersucht. Dann begann ich, den Wirklichkeitsgehalt jeglicher Gedankeninhalte mit der Methode zu hinterfragen. Und ich fand heraus, dass er ausnahmslos gleich Null ist. Dies zu wissen ist eine Sache, es minütlich, ja sekündlich vor Augen geführt zu bekommen, ist eine andere. Vieles wissen wir, aber wir vergessen es augenblicklich wieder. Wir können nicht mehr als einen „wissenden“ Gedanken festhalten. Wir lesen über die Wahrheit, wir vergleichen mit vergangenen Erfahrungen und stimmen zu. Aber dann wenden wir uns anderen Dingen zu und die Einsicht ist vergessen. Das Praktizieren der Methode scheint dazu zu führen, dass intellektuelles Wissen zu gelebter Wirklichkeit wird. Ein Fahrschüler muss jede Hand- und Fußbewegung bewusst machen, um zu schalten, aber nach einiger Zeit weiß er gar nicht mehr, wie er es tut – er tut es einfach. (Viele von uns können zum Beispiel nicht sagen, wie sie in den Rückwärtsgang ihrer Autos schalten, aber wenn sie sich hineinsetzen und es tun, geht es wie von selbst.) In meiner gelebten Wirklichkeit sehe ich immer öfter, dass das, was ich für die mich umgebende Realität hielt, nur mein Denken ist. Ich sehe mehr und mehr, dass es mich als Ego gar nicht gibt, sondern dass nur EINE Realität existiert und dass ich diese Realität bin. Es gibt nichts außerhalb dieser Realität und man kann sie nicht beschreiben. „The Work“ vertritt keine Philosophie, es sind nur Fragen. Sie bieten im Grunde nur eine Art Leinwand, auf die jeder projiziert, was sein Herz ihm sagt. Interessant scheint mir, dass die Projektionen vieler Menschen umso identischer werden, je länger sie sich die Fragen stellen. Was sich nämlich herauskristallisiert, ist das uralte Wissen, die uralte Weisheit. Das Schöne hierbei ist, dass die Menschen nicht nachplappern, was sie bei ihren Gurus gelesen oder gehört haben, sondern, dass das Wissen aus ihnen selbst kommt, aus der eigenen unsterblichen Seele, dem inneren Guru, der man selbst ist. Es ist natürlich kein Zufall, dass viele Satsang-Lehrer die Methode gelegentlich oder regelmäßig einsetzen. Eckart Tolle zum Beispiel empfiehlt „The Work“. Nach meiner Meinung gehört die Methode in den Anhang jedes spirituellen Werkes, denn allzu oft liest man über wunderbare und einleuchtende Theorien, hört Ratschläge, erfährt alles über uralte Weisheitslehren, aber wie man diese Dinge im praktischen Leben umsetzen soll, weiß man deshalb noch lange nicht. Wenn Sie so etwas Wunderbares wie Eckhart Tolles Buch „Jetzt!“ lesen, gewinnen Sie viele Erkenntnisse. Sie sind vielleicht begeistert von den tiefen Wahrheiten, die Sie auch schon immer ahnten – aber wo bleibt dieses Wissen, wenn Sie gerade einen Knollen kriegen, wenn Ihr Kind stirbt, Sie arbeitslos werden oder Osama bin Laden Ihnen oder Ihren Freunden eine Bombe aufs Haus schmeißt? Viele „Erleuchtete“, mit denen ich zusammentraf, auch über längere Zeit zusammenlebte, haben ohne Zweifel eine unvergleichliche Erfahrung des Einsseins gemacht, aber keiner von ihnen ist immer in diesem Zustand. Möglicherweise notgedrungen haben sie im Alltag ihr Ego wieder eingeschaltet. Und ich hatte oft das Gefühl, dass eben dann ego-istische Strategien, Meinungen, Denkmuster und Lehren von diesen Menschen kommen. Würden sie ihre Aussagen mit den Fragen von „The Work“ untersuchen, würden sie augenblicklich wieder mit dem verbunden werden, was sie und wir alle wirklich sind: mit dem absoluten Göttlichen. Sicher, man kann sich hieraus niemals wirklich entfernen, aber ob es einem in dem betreffenden Moment auch bewusst ist, macht einen großen Unterschied. Ich halte „The Work“ für ein wunderbares, leicht handhabbares und immer verfügbares Instrument, um Erleuchtung zu erlangen und dann auch lebendig zu erhalten. Für Erleuchtete und vermeintlich Unerleuchtete. Moritz Boerner
* In ihrem Buch „Lieben was ist“, das hauptsächlich aus Beispielen und Erläuterungen der Technik besteht, behauptet ihr Ehemann Stephen Mitchell im Vorwort zwar, dass Byron erleuchtet sei – sie selbst benutzt dieses Wort aber nicht. Auf entsprechende Fragen sagt sie: „Ich weiß nicht was Erleuchtung ist und es interessiert mich auch nicht. Ich bin hundertprozentig glücklich, das reicht mir.“ In einem Interview mit der „Los Angeles Times“ gibt Stephen Mitchell indirekt zu, dass er aus Werbezwecken das Wort „Erleuchtung“ benutzte.
* „Byron Katies The Work“. Inzwischen gibt es zwei weitere Bücher von mir, ebenfalls bei Goldmann: „Gemeinsam Lieben“ und „Der Wahrheit ist es egal, wo du sie findest“. |
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